N. Ackermann: Diplomatie und Distinktion

Cover
Titel
Diplomatie und Distinktion. Funktionen eines adligen Selbstzeugnisses der Sattelzeit


Autor(en)
Ackermann, Nadja
Reihe
Externa
Erschienen
Köln 2020: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 50,00
von
Hillard von Thiessen, Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Rostock

Angesichts der von der jüngeren Diplomatiegeschichte gepflegten akteurszentrierten Perspektive überrascht es, dass Selbstzeugnisse bislang wenig Eingang in die diplomatische Forschung gefunden haben. Nadja Ackermann hat sich eine sehr bemerkenswerte Quelle vorgenommen, um in diese Lücke zu stossen: das 51-bändige «Journal» des Neuenburger Patriziers Jean-Pierre de Chambrier d’Oleyres (1753–1822). Ziel ihrer Studie ist es, den «Denkrahmen» dieses Diplomaten auszuloten und auf diese Weise den akteurszentrierten Fokus zu schärfen. Zweitens – und auch damit wird ein Desiderat bedient – möchte die Verfasserin einen bezüglich der europäischen Diplomatie bislang unterbelichteten Zeitraum untersuchen, die Sattelzeit im Übergang zur Moderne. Sie nimmt dabei Bezug auf die vom Rezensenten entwickelten Idealtypen des «Diplomaten vom type ancien» und des «modernen Fachdiplomaten» und weist zurecht darauf hin, dass Untersuchungen über das Selbstverständnis diplomatischer Akteure in der Zeit des Übergangs zwischen den beiden genannten Typen weitgehend fehlen.

Selbstzeugnisse betrachtet die Verfasserin in praxeologischer Perspektive als Resultat bestimmter Schreibpraktiken. Für Chambrier d’Oleyres sei sein Tagebuch ein Mittel der «Buchhaltung des Alltags» gewesen, das heisst der Versuch, über Selbstbetrachtung beim Schreiben und bei der nachträglichen Lektüre der eigenen Aufzeichnungen zu Selbstvergewisserung und Selbstdisziplinierung im Sinne einer Optimierung des eigenen Tuns zu gelangen. Darüber hinaus war das Diarium, das auch als Lektüre für Verwandte gedacht war, ein Medium der Selbstinszenierung seines Verfassers. Chambrier d’Oleyres stellte sich als vorbildlicher Ökonom und als rastloser Vertreter der Interessen seiner Familie dar. Geschickt arbeitet die Verfasserin zudem heraus, wie der Patrizier, der – ganz auf der Höhe der Zeit – die Welt als Kausalsystem betrachtete, mittels rationalen Ressourceneinsatzes traditionelle Ziele verfolgte, und dies auf zwei Ebenen. Einerseits sei Chambrier d’Oleyres um den Ausbau materiellen, sozialen und symbolischen Kapitals seines Familienverbandes bemüht gewesen, andererseits habe er aber auch nie aus den Augen verloren, sich selbst möglichst vorteilhaft innerhalb seiner Familie zu positionieren. Die Verfasserin bezeichnet dieses Vorgehen als «Ökonomie der doppelten Distinktion».

Der diplomatische Dienst für die preussische Krone war der Weg, um dieses soziale Doppelziel zu erreichen. Die Laufbahn Chambrier d’Oleyres’ war insoweit ungewöhnlich, als er sehr lange auf seinem ersten Dienstposten verblieb: Von 1780 bis 1798 wirkte er als envoyé extraordinaire et plénipotentiaire des preussischen Königs am Turiner Hof, den er erst nach dem Einmarsch der französischen Armee wieder verliess, um sich anschliessend für einige Jahre auf seinen Landsitz in Comondrèche am Neuenburger See zurückzuziehen. 1805 wurde er als preussischer Gesandter bei der Eidgenossenschaft akkreditiert (bis 1816) und 1814 zusätzlich zum preussischen Gouverneur von Neuenburg ernannt. Dieses Amt übte er bis zu seinem Tod aus. Als Diplomat verstand er sich als Diener, der mit seinem Herrn ein reziprokes Gabentauschverhältnis einging, das seinem doppelten Distinktionsstreben dienlich, aber auch mit Risiken verbunden war. Denn er musste in seinen Dienst vor allem finanzielles Kapital investieren, in der Hoffnung, zu einem nicht bestimmbaren Zeitpunkt Gegenleistungen, vor allem in Form symbolischen Kapitals, zu erhalten. In dieser Hinsicht weitgehend dem Diplomaten vom type ancien entsprechend, bediente er sich zur Durchsetzung seiner Ziele der «mentalen Werkzeugkiste, die ihm das Jahrhundert der Aufklärung bereitstellte» (S. 241). Einerseits inszenierte er sich als um das Gemeinwohl besorgter Patriot (als patria ist hier das Fürstentum Neuenburg als Teil der preussischen Monarchie zu verstehen), andererseits verstand er sich als «Optimierer» des Familiensystems, der geschickt sich bietende Chancen nutzte, systematisch vorging und ökonomisch verantwortlich agierte. Nadja Ackermann bezeichnet diese «Symbiose von traditionellem Denkrahmen und Optimierungsbestrebungen» als «progressiven Traditionalismus» (S. 243).

Die besondere Leistung der Autorin besteht darin, mittels ihres exzeptionellen Quellenbestands konsequent die Perspektive des von ihr untersuchten Akteurs zu rekonstruieren und nach seinen Handlungsmotiven, seiner Weltsicht und seinem Selbstverständnis zu fragen. Der Dienst in der Diplomatie wird hier über weite Strecken zum Mittel zum Zweck der Distinktionsziele, womit die Verfasserin ein weit realistischeres Bild vom Denken eines diplomatischen Akteurs zeichnen dürfte als Arbeiten, die a priori die Dienstrolle von Diplomaten an erste Stelle setzen. Hinzu kommt in diesem Fall, dass die Turiner Gesandtschaft wenig makropolitische Herausforderungen bot. Besonders interessant ist der Ausblick der Autorin auf Transformationsprozesse der Diplomatie in der Sattelzeit. Sie plädiert dafür, diese stärker auf der Ebene personaler Akteure zu untersuchen. Wie diese mit der sich verändernden Umwelt und sich wandelnden Rahmenbedingungen umgingen und so Wandlungsprozesse in der Diplomatie nolens volens mitgestalteten, ohne bereits dem Idealtypus des modernen Fachdiplomaten zu entsprechen, ist in der Tat ein sehr lohnendes Unterfangen. Die Verfasserin betont zudem, dass die Transformation zum modernen Fachdiplomaten ein sehr viel längerer Prozess gewesen sein dürfte, als er aus der klassischen Makroperspektive erscheine. Die Sattelzeit der Diplomatie würde demnach weit in das 19. Jahrhundert reichen.

Nadja Ackermann hat eine mustergültige Analyse des Selbstbilds, der Selbstinszenierung und der agency von Diplomaten in einem von grundlegenden Transformationen gekennzeichneten Zeitraum vorgelegt sowie die Selbstzeugnisforschung und die akteurszentrierte Perspektive auf die Diplomatie geschickt miteinander verbunden. Natürlich handelt es sich nur um eine Fallstudie, deren Ergebnisse durch weitere Forschungen einzuordnen sind; dies ist auch der Verfasserin bewusst, die sorgfältig zwischen Forschungsergebnissen, Thesen und weiterführenden Anregungen unterscheidet. Auf allen drei Ebenen liefert Nadja Ackermanns Dissertation wichtige Ergebnisse und Hinweise; sie setzt damit Massstäbe für weitere Arbeiten zur Sattelzeit der Diplomatie.

Zitierweise:
von Thiessen, Hillard: Rezension zu: Ackermann, Nadja: Diplomatie und Distinktion. Funktionen eines adligen Selbstzeugnisses der Sattelzeit, Köln 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 383-384. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134>.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit